Pionier

Gutmann Aluminium Draht

Besonderheit

Wie kommt ein Metallproduzent zu Achtsamkeitskultur


Seit 80 Jahren produziert Gutmann Draht und Profile – ein stabiles bayrisches Traditionsunternehmen. Die Krise 2009 traf die Firma hart und brachte einiges in Bewegung. Heute gibt es keine Führungskräfte mehr. Die Arbeiter treffen Entscheidungen in  Stuhlkreisen. Wenn es zu hitzig wird, läutet ein Achtsamkeitsglöckchen und auch die Region merkt, dass Gutmann Neuland entdeckt hat.

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Organisation

Gutmann Aluminium Draht GmbH

Unternehmenssitz

Weißenburg

Umsatz

€ 38 Mio

Gründungsjahr

1937

Mitarbeiter

130

Achtsamkeit

Mittelstand

Krise 2009

Die Gutmann Aluminium Draht GmbH (GAD) mit Hauptsitz im bayrischen Weißenburg zieht seit 1937 Aluminimumdrähte und stellt Aluminiumprofile her. Das mittelständische Unternehmen produziert ausschließlich in Deutschland.
Die Krise 2009 hatte das Unternehmen 45 Prozent des Umsatzes und viele Arbeitsplätze gekostet.

Geschäftsführer Paul Habbel war sich sicher, dass ein Unternehmen langfristig nicht gesund bleiben könne, wenn der Druck weiterhin einfach von oben nach unten durchgereicht wird. Es müsse doch einen anderen Ansatz geben, wie ein Unternehmen funktioniert. Einen Ansatz, bei dem sich die Mitarbeitenden als Unternehmerinnen fühlen und handeln und ihre volle Intelligenz für die Organisation einbringen.

So begann nach der Krise ein gemeinsamer Prozess mit der Belegschaft zur Frage: Wie wollen wir miteinander arbeiten? Paul Habbel war deutlich geworden, dass eine grundlegende Veränderung in der Struktur und Kultur des Unternehmens nötig war. Er hatte die Vision einer sinngetriebenen und achtsamen Organisation – in der die Menschen achtsam sind mit sich selbst, mit anderen, mit dem gesamten Unternehmen und der Umwelt.

Habbel fragte alle Mitarbeitenden, ob sie bereit seien, diesen Wandel mitzugehen. Alle 130 Angestellten stimmten prompt zu, wobei deutlich war, dass niemand, auch nicht der Geschäftsführer selbst wusste, wie ein solcher Prozess aussehen und gestaltet werden könnte.


Change-Initiator Paul Habbel / (c) GAD

Vision entwickeln

Ein mühsamer Weg und Stunden stillstehender Maschinen folgten. Habbel brachte die Mitarbeitenden in Kreisen zusammen, um an Visionen und Vorschlägen für das Vorgehen zu arbeiten: Was wollen wir erreichen und wie wollen wir miteinander umgehen? Die Entwicklung brauchte Geduld und Vertrauen.

Für die Suche nach ihrem Weg in das Neue haben die »Gutmänner« eine eigene Umschreibung gefunden: »Wir irren voran.« Nicht an der Gestaltung der »besten« Lösung zu verzweifeln, sondern für die bestehenden Probleme eine bessere Lösung zu finden und dann weiterzusehen, ist seither die Devise. Auf der Suche nach dem Purpose der Organisation hatten Habbel und seine Kolleginnen in einem dreitägigen Workshop Theorie-U-Methoden nach Otto Scharmer genutzt, um sich mit der Zukunft zu verbinden und aus diesen Gedanken und Gefühlen ein lebendiges Visionsbild zu entwickeln.

Achtsame Organisation

Heute ist bei GAD nichts mehr so, wie es einmal war. Die Firma verfolgt zwei Seinszwecke: zentraler Seinszweck: die Kundinnen mit gutem Aluminiumdraht und gezogenen Aluminiumprofilen begeistern, höherer Seinszweck: Wirtschaft und Gesellschaft verändern, indem GAD als »achtsame Organisation« Vorbild für andere Unternehmen ist. GAD lädt Unternehmerinnen zu Vorträgen und Diskussionen ein und engagiert sich aktiv in der Region für eine Unternehmenskultur der »Augenhöhe«. Daraus hat sich bereits ein fester »Bewusstseinskreis« gebildet. 25 Unternehmerinnen arbeiten gemeinsam an den Themen Selbstverantwortung, Sinn und Ganzheit. Auch in der eigenen Firma gilt das Prinzip der Augenhöhe. ben.

Das hierarchische Organigramm ist einer »Arbeitshierarchie« gewichen. Statt starrer Zuständigkeiten und Befehlsstrukturen gibt es flexible aufgabenbezogene Verantwortung.
Die Mitarbeitenden haben Selbstverantwortung und Entscheidungsfreiheit für den eigenen Bereich. Funktionsbezeichnungen wurden abgeschafft, jetzt gelten klare Rollenbeschreibungen und Verantwortlichkeiten.

Aufträge gehen heute aus dem Vertrieb ohne Umwege direkt in die Produktion, wo die Mitarbeitenden gemeinsam auf Basis von Art, Menge, Lieferdatum usw. entscheiden, welches Produkt wann und von wem gefertigt wird. Mitarbeitende legen ihre Schichtpläne selbst fest. Treten bei der Schichtplanung Spannungen auf, werden sie von den betroffenen Rolleninhaberinnen in einem Kreis gemeinsam gelöst. Werden Sonderschichten notwendig, wird gemeinsam entschieden, wer für eine Extraschicht zum Beispiel an einem Samstag zur Verfügung steht. Gleiches gilt für die Urlaubsplanung.

Stuhlkreis im Besprechungsraum / (c) GAD

Selbstverantwortung

Der ehemalige Schichtführer Tahir Ljiko beschreibt, was sich seither für ihn verändert hat: »Als Schichtleiter habe ich mich in der Vergangenheit als Diener der Arbeiter gesehen. Als Ergebnis kamen alle mit ihren Schwierigkeiten und Problemen zu mir und haben erwartet, dass ich sie löse. Das war anstrengend und ermüdend. Heute haben die Mitarbeiter die Freiheit und die Verantwortung, ihre Probleme selbst zu lösen und die Lösungen sind meist viel besser!«

Er gehört zu jenen Gutmännern, die durch den Wandel ihre »Chef«-Position verloren haben. Dennoch hat Lijko die Rolle der Führungskraft, die jetzt die Aufgabe hat, den Rahmen für Zusammenarbeit zu gestalten und Netzwerke zu entwickeln. Paul Habbel hat bis heute die Rolle »Geschäftsführer« inne. Den Titel braucht es laut GmbH-Gesetz noch nach außen. Seine tatsächliche Rolle sieht er darin, Räume für relevante Dialoge zu öffnen und zu halten. In der Rolle Geschäftsführer hat Habbel noch das Vetorecht, mit dem er Rollen oder Kreise auffordern kann, eine Entscheidung noch einmal zu überdenken.

Kein oben-und-unten

Bei GAD hat jede Mitarbeitende das Recht und ist dazu aufgefordert, notwendige Änderungen im eigenen Bereich sofort umzusetzen. Sollten sich daraus Nachteile für andere Bereiche ergeben (z. B. entstehende Kosten), wird ein Kreis einberufen, um dort eine gemeinsame Lösung zu finden. So hat sich auch ein ehemals wunder Punkt gelöst: Aus dem »Oben-und-unten« zwischen Produktion und Vertrieb ist eine gut funktionierende Zusammenarbeit geworden. Via WhatsApp® wird rasch abgestimmt oder Delegierte werden als schnelle Botschafterinnen in den Nachbarbereich geschickt.

Bei GAD bestehen auch regelmäßige Kreise für wichtige Unternehmensfunktionen (z. B. Human Resources, Infrastruktur, Beschwerdemanagement). Entscheidungen in den Kreisen werden auf Basis des soziokratischen Konsent-Prinzips getroffen (grundsätzliche Zustimmung, keine wichtigen Gründe sprechen dagegen) und nicht auf Basis eines Konsens (eine Lösung zu finden, mit der jede glücklich ist, was meist zu einer Verwässerung von guten Vorschlägen führt). Innerhalb eines Kreises werden sämtliche Spannungen besprochen, egal wo sie herrühren (aus Rolle, Verantwortung, Aufgabe oder persönlichen Gründen).

Lernende Kreise

Die Erfahrung bei GAD hat gezeigt, dass die Kreise über die Zeit ihre Dialogfähigkeit und Kommunikationskompetenz steigern. Bei Bedarf kann jeder Kreis den internen Organisationsentwickler Michael Wolf als Moderator dazu rufen, der den Prozess begleitet , aber keinerlei Entscheidung trifft. Wertschätzende Kommunikation, Transparenz und Erfolg.

In jedem Kreismeeting gibt es eine Gastgeberin, eine Schreiberin, eine Zeitnehmerin und eine Achtgebende. Die Achtgebende ist dafür verantwortlich, auf den achtsamen Umgang aller mit sich und anderen zu achten (zuhören, erkunden, ausreden lassen, wertschätzen etc.) und eine Glocke zu läuten, sollte dagegen verstoßen werden. Das Glockensignal bedeutet kurz innezuhalten, bis der Klang verhallt, um dann in einem achtsameren Modus fortzufahren.

GAD praktiziert wertschätzende Kommunikation nach dem Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) von Marshall B. Rosenberg. Dazu gehört es zu »lauschen«, »absichtsvoll zu sprechen«, »zugewandt zu erkunden«, »mutig offenzulegen« oder »langsam zu sein«. Kraft gewinnen diese Gesprächsregeln dadurch, dass die Gutmänner sie für sich konkretisiert haben und täglich in den Kreisen praktizieren.
So bedeutet »langsam sein« Folgendes: »Anderen den Raum geben, ganz zu Ende zu reden, kurz abzuwarten, um sicher zu gehen, dass sie wirklich fertig sind. Die Worte der anderen in die Stille fallen zu lassen. Gerade dann wieder langsam werden, wenn das Gespräch angespannt und schnell geworden ist. Besonders langsam werden, wenn es ganz neue Ideen braucht.«
Selbstreflexion und Achtsamkeit werden so zu Qualitäten des Alltags und nicht wie sonst üblich in Trainings geschult. So gelingt es, die neue Haltung wirklich zu verankern.

Das neue Firmengebäude / (c) GAD

Nebenwirkungen

Tahir Ljiko fasst zusammen: »Es geht um unterschiedliche Perspektiven und darum, diese unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen und abzugleichen, es gibt nicht die eine Wahrheit!« Das wird auch im Ökosystem spürbar – viele Mitarbeiter berichten, dass ihren Partnern auffällt, dass sie ihnen besser zuhören als früher.

Der ehemalige Schichtführer Markus Treiber hat die Erfahrungen aus der Firma in seine Vereine getragen. Schützenverein und Fußballklub fanden sich plötzlich im Stuhlkreis wieder und lernten, dass zuhören wichtiger sein kann als reden. Vertriebsmitarbeiter Rudi Ehrengruber schaffte es, in seinem Heimatdorf die erhitzte Flüchtlingsdiskussion in einen Stuhlkreis zu bringen. Wenn auch verwirrt von der neuen Methode, ließen sich die Gemeindemitglieder auf einen achtsamen Dialog ein, in dem konträre Meinungen plötzlich nebeneinander Platz fanden.

Die »Kraft der Kreise« im Unternehmen berücksichtigte Gutmann beim Fabrikneubau 2014. Hier wurden bewusst ein zentraler Begegnungsraum und Räume für kleine Entscheidungsrunden gebaut. Nach dem Prinzip der Transparenz veröffentlicht das Unternehmen seine Umsatz-, Gewinn- und Verlustzahlen vierzehntägig, um allen unternehmerisches Mitdenken zu ermöglichen. »Transparenz schafft Vertrauen und Information schafft die Basis für eigenständige Entscheidungen«, sagt Paul Habbel. Wenn alle wissen, wie es um das Unternehmen steht, kann jede Verantwortung übernehmen, wenn es nicht gut läuft. Andererseits sieht jede auch ihren Anteil am Erfolg. Investmententscheidungen über 100.000 Euro werden gemeinsam mit den Mitarbeitenden diskutiert und getroffen.

Wegschauen geht nicht

Goran Nikolic, der die Rolle Vertrieb innehat, beschreibt: »Es gibt kein Wegschauen mehr, hier sind alle verantwortlich für diese Firma!« Bestätigung und Lohn für die Mühen, diese Veränderungen einzuführen, sind für Paul Habbel auch die Kennzahlen, die sich durch den Wandel sichtbar verbessert haben: Krankheits- und Arbeitsunfallquote sind deutlich gesunken, dagegen sind Liefertreue, Gewinn und Produktivität gestiegen. In einer Region, in der es schwierig ist, qualifizierte Mitarbeitende zu finden, kann GAD auf aufwendige Personalrekrutierung verzichten. Offene Stellen, auch mit besonderen Qualifikationsanforderungen kann das Unternehmen problemlos aus dem eigenen Netzwerk oder den Initiativbewerbungen besetzen.

Die achtsame Kommunikation und die Organisation in Kreisen machen GAD zu einem attraktiven Arbeitgeber, der zugleich von seinen Mitarbeitenden einiges verlangt: Verantwortung für sich, ihren Bereich und die gesamte Organisation zu übernehmen, nicht wegzuschauen, Spannungen anzusprechen (»Momente der Wahrheit«) und zu prozessieren. Das ist herausfordernd und fordert Entwicklung, deren Tempo und Tiefe jede Mitarbeitende selbst bestimmt.

85 Prozent gehen mit

Tahir Ljiko erzählt, was er als herausfordernd empfand: »Wenn mich etwas ärgert, hat es oftmals mehr mit mir selbst zu tun als mit dem Anderen. Da muss ich erstmal bei mir schauen, warum ich mich jetzt ärgere!«

Die persönliche Entwicklung muss niemand allein bewältigen. Der Organisationsentwickler Michael Wolff wird bei GAD »der Medizinmann« genannt – er unterstützt die Belegschaft in der persönlichen Weiterentwicklung durch Sparring, Reflexion und Coaching.

85 Prozent der Mitarbeitenden sind sehr zufrieden mit dem Weg. Daneben gibt es noch einige Abwartende und jene, die mit der Organisation in Kreisen und der Kultur der Achtsamkeit ihre Schwierigkeiten haben. Seit der Umstellung 2010 hat aber keine Führungskraft die Organisation aufgrund dieses tiefgreifenden Wandels verlassen.

Doch eine ganz zentrale Person geht jetzt. Der Initiator des Wandels, Paul Habbel, verlässt nach 20 Jahren GAD. »Das Unternehmen kommt jetzt ohne mich aus.« Habbel will die nächsten zehn Jahre nutzen, um seiner Vision eines durch Unternehmen angestoßenen gesellschaftlichen Wandels auch an anderen Stellen zu dienen.